Leitgedanken für die Arbeit der Reinhard Hesse Stiftung ‚Freiheit der Wissenschaft‘
Ich habe die vom Deutschen Hochschulverband, Bonn, verwaltete "Reinhard Hesse Stiftung ‚Freiheit der Wissenschaft‘ " errichtet, da ich dies für die geeignetste Weise hielt, auch über meinen Tod hinaus zur Diskussion und Verbreitung der Grundeinsichten beizutragen, die nach längerem Suchen und Prüfen zu den Leitgedanken meiner Arbeit als Hochschullehrer geworden sind und die ich zugleich für die zugrundeliegenden Gedanken der Institution Universität und darüber hinaus auch der Demokratie halte.
In meinem Fach, der Philosophie, geht es, wie in den Wissenschaften allgemein, um die Suche nach Wahrheit.
Das ist ohne ergebnisoffene, freie, tabulose Diskussion unmöglich. Die Wissenschaft lebt von dieser Freiheit. Und die legitimierende Machtbasis der Demokratie ist das Parlament, in dem über die anstehenden Entscheidungen in einer idealiter freien Diskussion befunden werden soll.
Dabei gehen beide implizit von einer Reihe - m.E. zutreffender - philosophischer Grundeinsichten aus. Es ist wichtig, sich diese Grundeinsichten bewusst zu machen, denn Wissenschaft und Demokratie können nur in einem kulturellen Klima gedeihen, in dem diese lebendig, anerkannt und prägend sind.
Um welche Grundeinsichten handelt es sich?
In systematischer Hinsicht:
- Erstens, dass es nötig ist, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Sapere aude! Das ist zugleich auch das Schwerste.
- Zweitens, dass es keine Instanz außerhalb des Menschen als Gattungswesen gibt, welche ihm sagt, was Wahrheit ist, was Sinn, was gut, was böse.
- Drittens, dass wir Menschen folglich aufeinander angewiesen sind in unserer ansonsten hilflosen Suche nach Wahrheit und Moral.
- Viertens, dass "Philo-soph" - nach Wahrheit suchender Mensch - zu sein, heißt, "Freund der Weisheit" zu sein, nicht ihr Besitzer. Freund aber bin ich nur solange ich mich bemühe.
- Fünftens, dass folglich - i.S. dieses Bemühens - Erkenntnis immer offen sein muss für begründete Revision.
- Dass das Erkenntnisstreben, sechstens, also den Anspruch auf Geltung ebensowenig aufgeben kann - auch nicht unter den modischen Vorzeichen postmoderner Beliebigkeiten - wie es sich in die vermeintliche Sicherheit religiöser oder sonst ideologischer Dogmen flüchten darf. Der Anspruch auf Geltung soll ja durch eine eventuelle Revision gerade verstärkt werden.
- Siebtens schließlich, dass das im obigen Verständnis zur conditio humana notwendig gehörende schlichte Stellen einer ernsthaften Frage zugleich, im performativ-pragmatischen Sinn, ein Sich-Stellen auf den Boden einer virtuell universalistischen Minimalethik ist. Mit anderen Worten: dass der Mensch nicht Mensch sein kann, ohne im Medium der Sprache den anderen immer schon anerkannt und sich mit ihm auf ein Geflecht wechselseitiger, gleicher Rechte und Pflichten eingelassen zu haben.
In historischer Hinsicht:
Vor allem dies: dass die Geistesgeschichte der Menschheit verstehbar ist als ein allmähliches Sich-Hinarbeiten, vielleicht sollte man eher sagen als ein Sich-Durchwursteln hin zu den oben skizzierten Einsichten. Man kann hierbei drei entscheidende Stufen unterscheiden: Platon (resp. Sokrates), Kant und die (transzendentalpragmatische) Sprachphilosophie.
- Erstens: Platon, der - m.E. richtig - i.S. seines Lehrers Sokrates das dialogische, argumentierende Suchen in den Mittelpunkt stellt, der jedoch zugleich – anders als Sokrates und m.E. falsch - den Dialog versteht als bloßes Mittel zur Wiederentdeckung von dialogunabhängig in einer spekulativen Ideenwelt vermeintlich existierenden ewigen Wahrheiten.
- Zweitens: Kant, der - m.E. richtig - den Schritt von der Heteronomie zur Autonomie vollzieht. Nicht mehr die Ideenwelt Platons, der transzendente Gott des Christentums oder die naturbezogene Sinnlichkeit des Empirismus orientieren uns, wir müssen uns selbst orientieren. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Kant, der aber zugleich - m.E. falsch - die Verstandestätigkeit im Großen und Ganzen als einsamen, bewusstseinsinternen Vorgang versteht. Und schließlich
- drittens: die Sprachphilosophie, die, ausgehend von Peirce und Wittgenstein, das bewusstseinsphilosophische Defizit aufzuarbeiten sucht und, in ihrer Apel`schen transzendental-pragmatischen Fortführung, aus der notwendigen Sprachbezogenheit menschlicher Orientierungssuche zugleich eine aus performativ-pragmatischen Gründen unvermeidliche, ethische Grundpositionierung reflexiv herausarbeitet. Kurz gesagt: Denken ist auf Sprache (Kommunikation) angewiesen und Kommunikation kommt nicht zustande ohne ethischen Minimalkonsens über, virtuell universalistische, gleiche Rechte und Pflichten.
Kommunikationssituationen, in denen alle Beteiligten als Freie und Gleichberechtigte unverstellt miteinander verkehren können, kommen jedoch im realen Leben allenfalls ausnahmsweise vor. Neben mangelndem guten Willen, mangelnder Einsicht und natürlich auch mangelnden Kommunikationswegen ist es u.a. die Ausübung von äußerer, struktureller oder direkter, Herrschaft und die innere Unterwerfung unter ideologische Fixierungen, die die beschriebene Idealsituation als Utopie erscheinen lässt. Das ist sie jedoch nicht. Sie ist eine mit jeder ernsthaft gestellten Frage notwendigerweise immer schon gemachte Vorwegnahme. Je geringer die Hindernisse sind, die ihr im Wege stehen - einige habe ich eben genannt - desto leichter wird es uns gelingen, in Kants Begriffen geredet, Wahrheit im Dialog zu erarbeiten, das Richtige zu tun und uns dabei nicht durch leere Hoffnungen narren zu lassen.
Die u.a. durch Ausübung von äußerer Herrschaft und durch ideologische Fixierungen bewirkten Kommunikationseinschränkungen zu analysieren und Wege zu ihrer Überwindung aufzuzeigen, ist eine Daueraufgabe.
Die Stiftung ist in diesem Sinne der Aufklärung verpflichtet, d.h. dem großen und ewigen Ziel der Überwindung von Ideologie und Herrschaft und damit der Ermöglichung von Mündigkeit. Dieses Ziel ist utopisch. "Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden", sagt Kant. Aber es ist nicht moralschwärmerisch! Die Hoffnung auf eine allmähliche Annäherung an das Ziel und die aus dieser Hoffnung ihre Kraft gewinnenden praktischen Bemühungen sind in Wirklichkeit der harte Kern dessen, was - i.S. der beharrlichen Verfolgung einer "regulativen Idee“ - die Würde des Menschen als vernunftbegabtes und auf Vernunft angewiesenes Wesen ausmacht.
Soviel in aller Kürze zu den philosophischen Leitgedanken, an denen sich die hochschulpolitische Arbeit der Stiftung orientieren soll.1
Der Deutsche Hochschulverband (DHV) hat sich bereiterklärt, die Stiftung zu verwalten. Das geschah nicht zufällig. Der DHV vertritt die Interessen der lehrend und forschend an den deutschen Hochschulen tätigen Wissenschaftler. In den Wissenschaften geht es, wie der Name sagt, um das Schaffen von Wissen, um das Finden von Wahrheit. Wissen zu schaffen, Wahrheit zu finden, ist in dem Maße erschwert, in dem innere ideologische Fixierungen oder äußere Bedingungen dem freien, unvoreingenommenen Austausch von Argumenten im Wege stehen.
Die Freiheit der Diskussion, in der jedes Argument - ohne Ansehen der Person - zugelassen ist, in der kein Argument ausgeschlossen werden darf, ist unabdingbare Voraussetzung nicht nur des Funktionierens von Wissenschaft, sondern darüber hinaus auch des demokratischen Staates, in den sie eingebettet ist und der die Aufgabe hat, sie in dieser ihrer Freiheit zu schützen - nicht zuletzt auch um seiner, des demokratischen Staates, selbst willen.
Das Vorhandensein eines institutionellen Raumes für den freien Austausch von Argument und Gegenargument ist nicht in ruhigen Zeiten gnädig gewährtes Entgegenkommen, sondern in allen Zeiten unverzichtbare Voraussetzung - noch deutlicher gesagt: triviale Überlebensbedingung - von Wissenschaft und von Demokratie.
Im Sinne der oben skizzierten Leitgedanken geht es darum, den Lebensnerv von Wissenschaft und Demokratie zu verteidigen, ihn nicht nur institutionell-rechtlich zu stärken, sondern vor allem auch durch die Pflege der zur Wissenschaftlichkeit gehörenden kulturellen Tradition und Mentalität zivilisierten, menschlichen Miteinanderumgehens unter Gleichen, d.h vernunftbegabten Wesen, mit Leben zu erfüllen.
Die Stiftung verfolgt keine inhaltlichen wissenschaftstheoretischen, ideologischen, politischen oder religiösen Zielsetzungen, Orientierungen oder Vorgaben.
Ihr geht es „nur“ um etwas Formales, um ein Verfahren, um etwas, das banal, selbstverständlich, trivial erscheinen könnte, wüsste man nicht aus traurigen Erfahrungen, welch furchterregend schweren Stand es hat, wie zerbrechlich dieses formale Regelwerk ist: Diskussion statt Kampf, Unvoreingenommenheit statt ideologische Fixierung, ruhig sprechen statt schreien, zuhören und aussprechenlassen statt niederreden oder verächtlichmachen, ad rem reden statt ad personam, suaviter in modo, fortiter in re.
Es sind nicht nur bolschewistische, nationalsozialistische, klerikale, rassistische, nihilistische, religiöse usw. Ideologen und Machthaber, denen der für die Wahrheitssuche und für das Alles-auf-die-Probe-Stellen unverzichtbare Freiraum ein Dorn im Auge war oder ist. Wie alle geistigen Strömungen so ist auch die des gegenwärtig dominierenden sog. Linksliberalismus in Gefahr zu pervertieren und den auf seine Fahne geschriebenen Idealen zuwiderzuhandeln. Auch hier möchte die Stiftung diejenigen unterstützen, die die Zivilcourage aufbringen, sich solchen Tendenzen zu widersetzen und die für offene, unvoreingenommene Diskurse nötigen Freiräume zu verteidigen.
Reinhard Hesse
1 Die hier nur kurz skizzierten Gedanken sind in meinem Buch "Worum geht es in der Philosophie? Grundfragen der Philosophie zwischen Wahrheit und Macht", LIT-Verlag, Münster-Berlin, 2008, weiter ausgeführt. Das Buch wurde auch in anderen Sprachen publiziert: Englisch, Spanisch, Italienisch, Bulgarisch, Japanisch. Eventuelle Interessenten können darüber hinaus auf meine im Universitätsarchiv Konstanz eingelagerten Publikationen und die dort ebenfalls eingelagerte Publikationsliste zugreifen.